Presse

2023-06-28

Zukunftsfähigkeit der europäischen Wirtschaft wäre gefährdet

DIN und DKE zum Gerichtsfall „Malamud“: Schlussanträge der Generalanwältin berücksichtigen Gefahren für Normung und Wirtschaft nicht ausreichend

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Vor knapp fünf Jahren erwähnte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil zu „James Elliott“ (C-613/14) beiläufig, dass harmonisierte Europäische Normen „Teil des Unionsrechts“ seien, ohne zugleich mögliche Konsequenzen zu beschreiben. In der Folge wurde auf dieser Grundlage von einzelnen Klägern kostenfreier Zugang zu harmonisierten Europäischen Normen gefordert, da im europäischen Rechtsraum Gesetze grundsätzlich frei einsehbar sein müssen.

Ein solcher Fall wird aktuell am Europäischen Gerichtshof verhandelt (Rechtssache C-588/21 P – auch bekannt als „Malamud-Fall“). Am 22. Juni 2023 hat nun die Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof, Frau Laila Medina, ihre Schlussanträge in diesem Fall veröffentlicht. Das finale Urteil des Europäischen Gerichtshofs liegt noch nicht vor. Schlussanträge für den Europäischen Gerichtshof sind nicht bindend, geben in der Regel aber eine Richtung für das Urteil vor. In den veröffentlichten Schlussanträgen sind Argumente enthalten und Rechtsfolgen beschrieben, die das Potential haben, sich negativ auf das bisher so erfolgreiche europäische Normungssystem auszuwirken.

Die Erarbeitung Europäischer Normen findet auf europäischer Ebene unter dem Dach der Normungsorganisationen CEN, CENELEC und ETSI statt. Die Inhalte der Normen werden durch Expert*innen aus Wirtschaft, Wissenschaft, öffentlicher Hand und Zivilgesellschaft erarbeitet, die von den nationalen Normungsorganisationen wie zum Beispiel DIN und DKE entsendet werden. DIN und DKE sind als Selbstverwaltungsorgan der deutschen Wirtschaft organisiert, sodass die notwendige Expertise bei der Erarbeitung von Normen unmittelbar durch die interessierten Kreise eingebracht werden kann und politische Zielstellungen nur als eine von vielen Meinungen in den Prozess einfließen. Die hohe Expertise der Fachleute und die breite Beteiligung aller Stakeholder sind der Schlüssel für die hohe Akzeptanz und das breite Vertrauen von Gesellschaft und Wirtschaft in Normen. In der europäischen Normung sorgen die Anwender durch den Kauf von Normen dafür, dass diese effiziente, privatwirtschaftliche Organisation der Normungsarbeit erhalten bleibt. Die Kosten für die Erarbeitung werden also auf die Anwender verteilt, die durch die Anwendung einen Nutzen aus Normen ziehen. Mehr Informationen zur Erstellung von Europäischen Normen finden sich hier.

Wir können die inhaltliche Argumentation der Schlussanträge der Generalanwältin nicht nachvollziehen und sind der Auffassung, dass die Gefahren für das grundsätzlich privatwirtschaftlich organisierte europäische Normungssystem mit direkten Folgen für das Wirtschaftssystem nicht ausreichend berücksichtigt wurden.

Diese wären unter anderem:

  • Die Erarbeitung von harmonisierten Normen ist nach Auffassung der Generalanwältin eine Auftragsarbeit für die Kommission, sodass alle Rechte zu Form und Inhalt der Normen bei der Kommission liegen. Einen alternativen Weg könnte die Kommission durch die Erarbeitung sog. common specifications beschreiten, einem Verfahren also vorbei am etablierten und akzeptierten, durch Wirtschaft und Gesellschaft getragenen Normungsverfahren.  
  • Die Erstellung der harmonisierten Normen wäre folglich nicht mehr in der bewährten privatwirtschaftlichen Weise finanziert, so dass die Erarbeitung durch die Expert*innen aus Wirtschaft, Wissenschaft, öffentlicher Hand und Zivilgesellschaft zunächst nicht mehr gewährleistet sein könnte.  
  • Dies würde zu Rechtsunsicherheit bei Unternehmen führen, da keine Konkretisierung der EU-Gesetzgebung unter Einbindung aller interessierten Kreise in technischen Fragestellungen erfolgen würde.
  • Der europäische Raum würde sich in der internationalen Normung isolieren, da die Verzahnung mit der internationalen Normung gefährdet wäre. Da Normen und Standards den Marktzugang für Produkte und Dienstleistungen weltweit erleichtern sollen, übernehmen die europäischen Normungsorganisationen oftmals internationale Normen von ISO und IEC in das europäische Normenwerk. Es ist zu befürchten, dass ISO- und IEC-Normen als weiterhin lizenzrechtlich geschützte Dokumente – nicht in das europäische Normungssystem übernommen werden können.  
  • In einer Zeit, in der die internationale Normung immer mehr als geopolitisches Instrument genutzt wird, können wir uns einen solchen Stillstand nicht erlauben. Europa würde bei der weiteren Entwicklung von Zukunftsfeldern, wie z. B. KI, Clean Tech und Circular Economy, weiter zurückfallen, da die Spielregeln dann von anderen Nationen geschrieben werden.
  • Ein solches Urteil würde die Grundsätze der Unabhängigkeit, Integrität, Neutralität und Inklusivität der Normung gefährden. Seit der Gründung der europäischen Normungsorganisationen werden Normen unabhängig von Partikularinteressen – egal ob öffentlicher oder privater, kommerzieller oder politischer Natur – entwickelt. Der freie Zugang zu harmonisierten Europäischen Normen könnte diese Unabhängigkeit in Frage stellen – ebenso wie das nicht gewinnorientierte europäische Normungssystem.    

Wir sind uns der Tragweite bewusst, die ein entsprechendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs haben könnte und stimmen uns in der Bewertung eng mit der DKE, CEN/CENELEC, den nationalen Normungsorganisationen und politischen Akteuren ab. Nach unserer Auffassung sollte eine finale richterliche Entscheidung unbedingt auch die Auswirkungen für die Normung gegen den freien Zugang von Normen abwägen und berücksichtigen.

Ihr Kontakt

DIN e. V.
Pressesprecher
Julian Pinnig

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Tel.: +49 30 2601-2812

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