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"Ein Schritt vorwärts – ein Schritt zurück"
Interview mit Daniel Schmidt, DIN-Vorstand, zum Beschluss des neuen Gesetzesentwurfs zum Gebäudetyp E und zur Rolle von DIN-Normen im Bauwesen
Das Bundeskabinett hat am Mittwoch den Gesetzentwurf für das „Gebäudetyp-E-Gesetz“ des Bundesministeriums der Justiz beschlossen. Ziel des Gesetzes ist es, den Wohnungsbau in Deutschland zu erleichtern und kostengünstiger zu gestalten. DIN-Vorstandsmitglied Daniel Schmidt bezieht im Interview Position zum überarbeiteten Gesetzesentwurf und erläutert, warum DIN-Normen für die Baupraxis unverzichtbar sind.
Das Bundeskabinett ist sich einig: Der Gebäudetyp E soll kommen. Wie beurteilen Sie das Gesetzesvorhaben?
Daniel Schmidt: Bei DIN begrüßen wir die Ziele des Gebäudetyp-E-Gesetzes insgesamt. Der Wohnungsbau in Deutschland muss wieder kostengünstiger werden. Was wir uns künftig beim Schaffen von Wohnraum leisten können und wollen, bedarf eines gesellschaftlichen Diskurses. Normen sind der Output einer solchen Diskussion. Daher ist es auch richtig, dass Normen auch in diesem neuen gesetzlichen Rahmen weiterhin eine zentrale Rolle spielen werden, um Sicherheit, Qualität und Innovation im Bauwesen zu gewährleisten. Gleichzeitig will das Gesetz flexiblere Planungsmöglichkeiten eröffnen und – auch heute bereits mögliche – Abweichungen von den anerkannten Regeln der Technik auf einer gesetzlichen Basis ermöglichen. Auch wenn Normen bereits freiwillig in ihrer Anwendung sind, verstehe ich den Wunsch nach mehr Rechtssicherheit der Praxis. Wichtig ist dabei allerdings, dass der Gesetzesentwurf in der Praxis nicht zu neuen juristischen Unklarheiten führt.
Der ursprüngliche Referentenentwurf wurde im bisherigen Gesetzgebungsprozess an verschiedenen Stellen verändert. Wie beurteilen Sie die Anpassungen?
Unser Fazit ist sehr gemischt. Einige Kritikpunkte wurden in der Überarbeitung erkannt und angepasst. So sieht der neue Entwurf eine Hinweispflicht gegenüber dem Verbraucher vor, wenn in bestimmten Fällen von technischen Normen und Regeln abgewichen wird. Der im Juli veröffentlichte Referentenentwurf unterschied Normen bezüglich ihrer Vermutungswirkung in Normen, die „reine Ausstattungs- und Komfortmerkmale“ abbilden und Normen, die sicherheitstechnische Festlegungen enthalten. Dies war aus unserer Sicht ein Fehler, der mit dem neuen Entwurf behoben wurde.
Was ist hier mit „Vermutungswirkung“ gemeint?
Die Vermutung, dass DIN-Normen anerkannte Regeln der Technik sind, kann nur einheitlich für alle Arten von DIN-Normen bestehen. Egal ob es sich um sogenannten Ausstattungs-, Komfort- oder Sicherheitsnormen handelt. Denn der Grund für diese Vermutung liegt im besonderen Verfahren, in dem DIN-Normen erstellt werden. Dieses Verfahren stellt – für alle Arten von Normen einheitlich – sicher, dass die Ergebnisse der Normungsarbeit besonders geeignet sind, sich als anerkannte Regeln der Technik zu etablieren. Dies wird – wiederum für alle Arten von Normen einheitlich – vor allem dadurch gewährleistet, dass sich an der Erarbeitung von DIN-Normen alle interessierten Kreise beteiligen und der Normenentwurf durch die Öffentlichkeit kommentiert wird. Dies ist bei allen DIN-Normen gleichermaßen der Fall – unabhängig davon, um was für Normen es sich handelt.
Und gibt es aus Ihrer Sicht auch neue Kritikpunkte?
Laut des neuen Gesetzentwurfs darf die Bundesregierung festlegen, welche Normen die Nutzung von innovativen, nachhaltigen oder kostengünstigen Bauweisen oder Baustoffen erheblich erschweren. Auf welcher Grundlage und welcher Kompetenz diese Festlegungen getroffen werden, erscheint uns völlig unklar. Gerade Normen werden durch ganz unterschiedliche Personengruppen mit diversen Interessen erarbeitet. Die Vertreter*innen der öffentlichen Hand wirken dabei aktiv mit und nutzen Normen, um Gesetze und Vorschriften zu konkretisieren. Was mir wichtig ist: Normen werden durch Sachverständige und Gerichte herangezogen, weil sie aufgrund der in ihnen gebündelten Expertise eine wertvolle Grundlage bei der Beurteilung von strittigen Sachverhalten zwischen Bauherren und Bauherrinnen sowie Bauunternehmer*innen sind. Diese Expertise wird durch die neue Passage im Gesetz in Zweifel gezogen. Daher muss man leider sagen: Der neue Gesetzentwurf geht einen Schritt vorwärts – gleichzeitig aber auch einen Schritt zurück.
Wie können sog. Ausstattungs- und Komfortnormen zukünftig von anderen Normen unterschieden werden?
In der Praxis wird das eine schwierige Frage werden. Viele Normen enthalten sowohl Ausstattungs- und Komfortmerkmale als auch sicherheitstechnische oder andere Festlegungen. Ein Beispiel für diese Herausforderung ist die Barrierefreiheit: Hier greifen Komfort- und Sicherheitsaspekte oft ineinander, sodass eine klare Trennung schwierig ist. Die Festlegung, welche Normen sogenannte Ausstattungs- und Komfortnormen sind, wird voraussichtlich im Einzelfall durch Gerichte zu entscheiden sein. Wichtig ist auch zu verstehen, dass nur ein kleiner Teil unserer Baunormen sogenannte Ausstattungs-/Komfort- oder Sicherheitsnormen sind. Der mit Abstand größte Teil unserer Baunormen sorgt für Interoperabilität, d.h. dass Produkte oder Prozesse im Bau zueinanderpassen. Sie sind demnach auch nicht vom neuen Gesetz betroffen. Ich frage mich zudem, ob wir mit Blick auf die sogenannten Ausstattungsnormen nicht zu kurz springen und die Folgekosten für notwendige Anpassungen an Gebäuden am Ende zu viel höheren Kosten führen.
Was denken Sie: Wie wird der Gesetzesentwurf von der Baubranche aufgenommen?
Wir haben gerade vor Kurzem eine Umfrage zu Baunormen mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey durchgeführt und rund 300 Fachleute der Bauwirtschaft zu ihrer Einschätzung von Normen – und auch zum Gebäudetyp E – befragt. Der Referentenentwurf zum Gebäudetyp E wurde von den Fachleuten mit Skepsis betrachtet. Weniger als ein Drittel der Befragten war überzeugt, dass er die gewünschten Vorteile bringt. Zudem lehnte fast die Hälfte der Fachleute eine Trennung zwischen sogenannten Sicherheits-, Ausstattungs- und Komfortstandards ab. Ich bin skeptisch, dass der neue Gesetzesentwurf die Unsicherheit in der Branche aufhebt.
Welche Rolle werden Normen nach Verabschiedung des Gesetzes spielen?
Normen spiegeln die Anforderungen und Bedarfe unserer Gesellschaft wider und stellen den aktuellen Stand der Technik dar. Sie werden auch nach der Verabschiedung des Gesetzes eine sehr wichtige Rolle spielen. Denn: Ihre Bedeutung für die Bauwirtschaft ist immens, da sie als Grundlage für Sicherheit, Qualität und Innovation dienen. Das zeigt auch unsere Umfrage: Fast 70 % der Befragten halten DIN-Normen beim Bauen für unverzichtbar. Und wenn normkonform geplant und gebaut wird, könnten jährlich rund 24 Milliarden Euro an Fehlerkosten im Bauwesen eingespart werden. Oder anders gesagt: Normen wirken wie ein Bauplan, der sicherstellt, dass jedes Bauteil exakt passt und dass keine Nacharbeiten nötig werden – das spart Zeit und Kosten und macht den Bauprozess sicherer und planbarer. Normen und Standards sind für das Bauwesen, was Hammer und Zange für den Handwerker sind – Werkzeuge, die Sicherheit und Effizienz schaffen.
Wie geht es jetzt mit dem Gesetzentwurf weiter?
Nachdem das Bundeskabinett den Entwurf beschlossen hat, würde er nun normalerweise ins parlamentarische Verfahren gehen und weiter beraten werden. Welche Folgen der Bruch der Ampel-Koalition auf das Gesetz hat, können wir im Moment leider nicht absehen.
Danke für das Gespräch, Herr Schmidt.
Fast 70 % der Bauexpertinnen und -experten kann sich nicht vorstellen, beim Bauen auf Normen zu verzichten. Das ergab eine Umfrage von Civey unter 300 Fachleuten aus der Bauwirtschaft. Erfahren auch Sie, wie Normen und Standards das Bauen zukunftsfähig machen