Presse
Besser auf Extremwetterlagen vorbereitet sein
Weltnormentag 2024
Höhere Temperaturen, Extremwetterereignisse, steigender Meeresspiegel – viele Auswirkungen des Klimawandels sind bereits spürbar. Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich daran anpassen und auf das Unvorhersehbare vorbereitet sein. Normen und Standards können bei der Anpassung unterstützen. Das ist die übereinstimmende Meinung von Christoph Winterhalter, Vorstandsvorsitzender von DIN, Michael Teigeler, Geschäftsführer der DKE, und Adrian Willig, Direktor des VDI. Im Interview zum heutigen Weltnormentag erläutern sie, wie Normung und Standardisierung die europäische Infrastruktur klimaresilienter machen können.
Trotz aller Anstrengungen, Treibhausgasemissionen zu senken, lassen sich erste Folgen der weltweiten Erwärmung nicht mehr vermeiden. Weshalb ist das auch in der Normung ein Thema?
Christoph Winterhalter: Wenn wir es mit immer weiter steigenden Durchschnittstemperaturen, extremerem Wetter mit Trockenperioden, Überschwemmungen, Verlust an Biodiversität und vielen weiteren klimabedingten Folgen zu tun bekommen, hat das ganz vielfältige Auswirkungen, an die wir uns bestmöglich anpassen müssen. Diesen Auswirkungen und den damit verbundenen Herausforderungen müssen wir uns stellen – ob das nun unsere Infrastruktur, Landwirtschaft, Städte und Kommunen, Wirtschaft oder Tourismus betrifft. Normen und Standards können hier aktiv unterstützen. Sie legen beispielsweise Anforderungen und Empfehlungen an die Belastbarkeit von Infrastruktur, die vom Klimawandel betroffen ist, und an zugehörige Prüfverfahren fest. Das heißt, wir müssen jetzt in der Normung handeln, um Gesellschaft und Wirtschaft auch in Zukunft bestmöglich dabei zu unterstützen, klimabedingte Schäden und Beeinträchtigungen zu vermeiden. Diese zwingend erforderliche Anpassung an den Klimawandel kann übrigens auch eine Chance sein, sich als Unternehmen oder Organisation langfristig nachhaltiger aufzustellen.
Was bedeutet es konkret, sich an die Folgen des Klimawandels anzupassen?
Adrian Willig: Es geht darum, gesellschaftlich bedeutsame Systeme klimaresilienter, also widerstandsfähiger zu machen. Das kann konkret beispielsweise Infrastruktur sein, über die die Bevölkerung und Wirtschaft mit Energie, Nahrungs- und Betriebsmitteln sowie Wasser versorgt werden. Dabei gilt das Motto „Vorbeugen ist besser als Nachsorgen“. Was ich damit sagen will: Sind diese Systeme erst mal klimabedingt gestört, braucht es mehr Ressourcen und größere Anstrengungen, um die volle Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Ein Beispiel für eine gelungene Vorsorge ist die sogenannte „Schwammstadt“, die Wasser zwischenspeichert und zeitverzögert wieder abgibt – eine clevere Lösung, um Überschwemmungen vorzubeugen. Um solche Konzepte zu ermöglichen, müssen jedoch bestehende Normen und Standards, beispielsweise zu Abwasserleitungen, an die neuen Anforderungen angepasst werden. Oder Normen, die sich mit Anforderungen an den Hitzeschutz von Gebäuden befassen, das wird bei extremen Temperaturen sehr wichtig. Und bei Bedarf sind Normen und Standards zu erarbeiten, die solche innovativen Lösungen zur Anpassung an den Klimawandel erleichtern.
Gibt es Branchen, die stark vom Klimawandel betroffen sind, und wo die Normung entsprechend besonders aktiv werden muss?
Michael Teigeler: An dieser Stelle würde ich keine Branche hervorheben – denn der Klimawandel ist eine weltweite und damit auch eine branchenübergreifende Herausforderung. Wir brauchen also Lösungen und Risikominimierung auf internationaler Ebene.
In der elektrotechnischen Normung haben wir daher die Vision der All Electric Society entwickelt. Die All Electric Society ist eine Gesellschaft, in der unsere Energieversorgung auf erneuerbaren Energien basiert und alle Bereiche der Industrie und Gesellschaft vernetzt sind, um maximale Energieeffizienz zu erreichen. Die Vernetzung der einzelnen Bereiche geschieht durch Digitalisierung der einzelnen Anwendungen. Damit das funktioniert, brauchen wir Normen und Standards, die beschreiben, wie die Verknüpfung aussehen soll und wie sie sicher funktioniert.
So können wir in dieser klimaneutralen Gesellschaft der Zukunft die Auswirkungen der Klimaveränderung minimieren.
Sicher gibt es viele Normen und Standards, bei denen nicht offensichtlich ist, ob sie in Bezug auf die Folgen des Klimawandels anzupassen sind. Woher wissen die Normungsgremien, in welchen Fällen sie aktiv werden müssen?
Christoph Winterhalter: Das ist eine berechtigte Frage, die wir uns auch gestellt haben. Und die gar nicht immer auf Anhieb zu beantworten ist. Deshalb bieten wir unseren Normenausschüssen bei DIN eine Frageliste als Diskussionsgrundlage an. Anhand von drei Fragen lässt sich relativ schnell klären, ob eine Norm oder ein Standard vom Klimawandel betroffen sein könnte. Falls ja, empfiehlt sich ein genauer Blick der Expertinnen und Experten auf die Norm, und dann womöglich eine Aktualisierung.
Klimaanpassung steht auch auf der politischen Agenda. Welche Rolle spielt hier die Normung?
Michael Teigeler: Beim Thema Klimaanpassung ist es wichtig, dass wir alle gemeinsam überlegen, welche Maßnahmen wir ergreifen können und alle einen Teil dazu beitragen, um Auswirkungen und Risiken zu minimieren. Zunächst müssen wir analysieren, wo wir Energie einsparen können. Denn die Energie, die wir nicht verbrauchen, müssen wir erst gar nicht erzeugen. Dann können die übrigen Prozesse energieeffizient gestaltet werden. Auf diese Weise erreichen wir einen weitaus größeren Effekt, als wenn wir einfach nur auf Energieeffizienz fokussieren.
Normen und Standards erfüllen dabei eine Schlüsselfunktion, denn sie stellen sicher, dass einzelne Anwendungen miteinander verbunden werden können, Materialverbrauch reduziert wird und trotzdem alles zuverlässig funktioniert.
Ein aktuelles Beispiel dazu - die Normen und Standards zur Kreislaufwirtschaft, gemeinsam entwickelt von unseren Stakeholdern aus Industrie, Politik und Gesellschaft. Die Normen beschreiben, wie Produkte und Materialien hergestellt werden können, damit wir sie sicher wiederverwenden können. Gleichzeitig stärkt die Politik durch das europäische Recht auf Reparatur die Rechte der Verbrauchenden. Politik und Normung ergänzen sich da gegenseitig. Wenn beide an einem Strang ziehen, ist das ein Gewinn für die Gesellschaft.
DIN, DKE und der VDI arbeiten beim Thema Klimaanpassung eng zusammen. Wie gehen Sie das an?
Adrian Willig: Klimaanpassung ist, wie zuvor erläutert, ein Querschnittsthema, das in etlichen Bereichen und Sektoren zu beachten ist. Deshalb braucht es einen übergeordneten Blick, um fachübergreifend Maßnahmen und Strategien aufzeigen zu können. Das können wir als DIN, DKE und VDI am besten gemeinsam vorantreiben. Konkret haben wir einen Aktionsplan erstellt, der aktuell umgesetzt wird – unter anderem mit Workshops, um in thematisch gegliederten Arbeitskreisen Anforderungen an Klimaanpassungsmaßnahmen zu erarbeiten.
Welche Ziele verfolgen Sie mit der Kooperation?
Christoph Winterhalter: Wir wollen insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen sowie kommunale Behörden mithilfe von Normen und Standards bestmöglich dabei unterstützen, Klimarisiken zu analysieren und Anpassungsmaßnahmen zu planen. Das ist unser kurz- bis mittelfristiges Ziel.
Müssen neue Standards künftig von Beginn an klimatische Bedingungen berücksichtigen?
Michael Teigeler: Das streben wir tatsächlich so an, weil es deutlich effizienter ist, das Thema gleich von Anfang an mitzudenken. Mittel- bis langfristig wollen wir erreichen, dass Klimaanpassung in den betroffenen Fachgebieten bereits berücksichtigt wird, wenn Normen und Standards erstellt werden. Und was die Aktualisierung von Normen betrifft: Die über DIN, DKE und VDI vernetzten Expertinnen und Experten werden in den regelmäßig anstehenden Überarbeitungen des Regelwerks prüfen, ob und wie Normen und Standards angepasst werden müssen, damit sie „klimafest“ sind.
Christoph Winterhalter: Zu ergänzen ist noch, dass wir Kooperationen auf europäischer Ebene mit den Normungsorganisationen CEN und CENELEC sowie auf internationaler Ebene mit ISO und IEC planen. Das bietet die Chance, die europäischen und internationalen Aktivitäten zur Klimaanpassung gezielt mitzugestalten. DIN und DKE sind auch bei diesem Thema das Tor zur internationalen Normung.
Was gibt es aus Ihrer Sicht noch, was beim Thema Klimaanpassung hervorzuheben ist?
Adrian Willig: Es ist uns wichtig zu betonen, dass Maßnahmen zur Klimaanpassung nicht bedeuten, den Klimawandel zu akzeptieren und nichts mehr für den Klimaschutz zu tun. Im Gegenteil: Klimaschutz und Klimaanpassung müssen parallel laufen und müssen sich ergänzen. Wir haben jetzt schon mit unumkehrbaren Folgen des Klimawandels zu tun: Hier greift die Klimaanpassung. Gleichzeitig gilt es, den Klimawandel mit Klimaschutzaktivitäten aufzuhalten.